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Süddeutsche Artikel Verfassung vom 03.03.2020

in Eintrag 05.03.2020 19:11
von mike erich • 5 Beiträge

Süddeutsche Zeitung
3. März 2020, 18:57 Uhr
Grundgesetz:Deutschland braucht endlich eine Verfassung
Das Grundgesetz war nur als Provisorium gedacht. Es wird der gesamtdeutschen Gegenwart nicht mehr gerecht, sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.
Gastbeitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk
Unsere Gesellschaft ist nachhaltig erschüttert. Die jüngsten Vorgänge in Thüringen, wo der Landtag an diesem Mittwoch einen Ministerpräsidenten wählen soll, haben viele Fragen aufgeworfen. Manche davon scheinen tagesaktueller, andere genereller Art zu sein. Der täglich zu beobachtenden Untergrabung der repräsentativen Demokratie muss etwas Wirksames entgegengesetzt werden. Denn nicht nur der "Fall Thüringen" wirft die Frage auf: In was für einer Verfassung wollen wir leben?
Das Grundgesetz war 1949 als ein Provisorium in Kraft gesetzt worden. Schon der Name "Grundgesetz" statt "Verfassung" signalisierte diesen vorläufigen Charakter. Im Jahr der deutschen Einheit 1990 schien die Zeit gekommen, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten. Daraus wurde nichts. Grund genug, im Jubiläumsjahr der deutschen Einheit zurückzuschauen und zu fragen, ob es nicht nunmehr an der Zeit sei, eine neue Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes zu erarbeiten.
Seit dem Herbst 1989 hatte sich in der DDR eine Verfassungsdebatte entwickelt, die viele Ostdeutsche als überflüssig ansahen. Zwar wünschten sie die schnelle Streichung von Artikel 1 der DDR-Verfassung, die die führende Rolle der SED seit 1968 juristisch festgeschrieben hatte, was auch am 1. Dezember 1989 geschah. Aber insgesamt war die ostdeutsche Gesellschaft wenig mit juristischen und schon gar nicht mit Verfassungsfragen vertraut. Ihr Erfahrungsschatz hatte in dieser Hinsicht nicht viel aufzubieten. Woher auch?
Am Zentralen Runden Tisch konstituierte sich eine Arbeitsgruppe "Neue Verfassung", in der Expertinnen und Experten aus Ost und West zusammenarbeiteten. Selbst Kanzler Kohl erklärte am 11. Februar 1990 nach seiner Rückkehr aus Moskau in einem Interview, es müsse eine neue Verfassung erarbeitet werden. "Ich bin dafür, dass das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht."
Wenig später erklärte Kohl, die Vereinigung würde nach Artikel 23 zustande kommen. Dabei war dieser Beitrittsartikel ursprünglich gar nicht für die ostdeutschen Länder vorgesehen, er war 1949 wegen des Saarlandes ins Grundgesetz mitaufgenommen worden. Für die deutsche Wiedervereinigung war Artikel 146 im Grundgesetz vorgesehen. Dieser lautete bis Ende September 1990: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Die deutsche Einigung blieb in der Bonner Politik folgenlos
Noch vor dem 3. Oktober 1990 änderte der Bundestag diesen Artikel, der seither lautet: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Die deutsche Einigung blieb in der Bonner Politik folgenlos. Genug Probleme, hieß es, hätte die Bundesrepublik zu bewältigen gehabt, Probleme, die sich seit Jahren bis 1989 angestaut hatten. Da sei eine Verfassungsdebatte nur hinderlich gewesen. Zumal die große Mehrheit der Ostdeutschen nach genau diesem Grundgesetz strebte und die große Mehrheit der Westdeutschen keine Gründe für eine Verfassungsänderung erkennen konnte. Hinzu kam, dass die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 als Plebiszit für Artikel 23 Grundgesetz (Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) galt und es angesichts des engen Zeitplans keine Möglichkeiten für eine neue Verfassung nach Artikel 146 gab. Und eine Volksbefragung in der Bundesrepublik, wie manche noch heute glauben kritisch anmerken zu müssen, war verfassungsrechtlich nicht vorgesehen.
In der Volkskammer ist die DDR-Verfassung 1990 mehrfach geändert worden, um neue Gesetze nicht in Widerspruch zu ihr zu bringen. Zwar hatte die erwähne Arbeitsgruppe vom Runden Tisch bis zum 4. April 1990 eine neue DDR-Verfassung erarbeitet, eine Rechtsverbindlichkeit war damit aber nicht verbunden. Im DDR-Parlament fanden sich jenseits von Bündnis 90 und der PDS keine politischen Kräfte, die über eine neue DDR-Verfassung debattieren wollten. Das war angesichts der bereits laufenden Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nachvollziehbar. Das Problem einer gemeinsamen deutschen Verfassung blieb gleichwohl bestehen.
Für die Ostdeutschen wäre eine Verfassung das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen
Am 16. Juni 1990 gründete sich ein gesamtdeutsches "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder", das dem grün-linksliberalen politischen Spektrum zugerechnet wurde und viele Wissenschaftler, Politikerinnen und Intellektuelle aus dieser politischen Richtung vereinte. In der Evangelischen Akademie Bad Boll fand nur wenige Tage später eine mit hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern aus Ost und West, darunter Wolfgang Schäuble, besetzte Veranstaltung statt, die einen großen Konsens offenbarte, dass Deutschland eine gemeinsame neue Verfassung benötige. Der Beitritt nach Artikel 23 GG sei nunmehr unumgänglich; die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung nach Art 146 GG aber im vereinten Deutschland wünschenswert.
So argumentierten 1990 nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern auch Verfassungsexperten wie Dieter Grimm, Josef Isensee, Ernst Benda, Bernhard Schlink oder Ulrich K. Preuß. Im Einigungsvertrag ist in Artikel 5 festgehalten worden, dass die Vertragsparteien den künftigen gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfehlen, innerhalb von zwei Jahren die Wirksamkeit von Artikel 146 zu prüfen. Ende November 1991 setzten Bundestag und Bundesrat eine "Gemeinsame Verfassungskommission" ein. Knapp zwei Jahre später beendete die Kommission ihre Arbeit. Sie schlug einzelne Änderungen vor. Das Grundgesetz als solches wurde nicht angetastet.
Das Grundgesetz gilt weltweit als Vorbild. Aus dem Provisorium ist ein Definitivum geworden. Es hat sich bewährt. Aus juristischer Sicht mochte eine neue Verfassung nicht vonnöten sein. Allerdings muss man hinzufügen, in der siebzigjährigen Geschichte des Grundgesetzes erwiesen sich über sechzig Verfassungsänderungen als notwendig, davon etwa die Hälfte seit dem 3. Oktober 1990. Da dabei nicht selten mehrere Artikel angepasst wurden, übersteigt die Zahl der tatsächlichen Artikeländerungen die genannte Zahl etwa um das Dreifache. Es heißt, weltweit sei keine bestehende Verfassung häufiger verändert worden. Man muss wohl kein Experte sein, um zu erahnen, dass nach vielen Veränderungen eine Gesamtneukonstruktion dem Anliegen nicht schaden würde. Dabei würde man wohl wie in den Debatten 1990/91 davon ausgehen können, dass nicht nur das Grundgerüst, sondern auch ein Großteil des Werks übernommen würde.
War es daher vielleicht wirklich nicht nötig, in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung eine neue, eine gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden? Rechtlich vielleicht nicht. Politisch und kulturell schon eher, da gehen jedenfalls die Meinungen auseinander. Es kann sich dabei auch nur um Meinungen handeln, weil es niemand wissen kann. Richard Schröder glaubt, das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen wäre dadurch nicht "erheblich gestärkt" worden. Dieser verbreiteten Haltung, die vor allem Konservative und westdeutsche Sozialdemokraten teilten, wird vielfach entgegengehalten, eine durch eine verfassungsgebende Versammlung oder gar durch einen Volksentscheid verabschiedete neue gesamtdeutsche Verfassung hätte signalisiert, es beginne "auf Augenhöhe" ein neuer Abschnitt deutscher Staats- und Verfassungsgeschichte.
Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb 1990: "Um die Teilung zu überwinden, müssen die Westdeutschen infolgedessen nicht nur tun, was der Bundeskanzler allzu lange bestritten hat, nämlich materielle Opfer bringen. Sie müssen, was viel schwerer ist, sich in vielerlei Hinsicht innerlich umstellen. Sie müssen ihren Verfassungspatriotismus weiterentwickeln zu einem Patriotismus der Solidarität. Dazu gehört, dass sie nicht alles und jedes so belassen, wie es ist, nur weil es nun einmal so ist. Das gilt für die gesamtdeutsche Verfassung, die sicherlich weitgehend mit dem Grundgesetz von 1949 übereinstimmen wird und doch, um der demokratischen Legitimation des neuen Gemeinwesens willen, zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden sollte."
Es muss auch eine neue Nationalhymne her, und das schon lange
In einem souveränen Akt hätte sich das deutsche Gemeinwesen eine gemeinsame Verfassung gegeben, hinter der sich zukünftig alle Demokraten und Demokratinnen hätten versammeln können. Für die Ostdeutschen wäre es vor allem mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen. Und die Westdeutschen hätten erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden musste. Natürlich ist es Spekulation, was eine neue Verfassung wirklich bewirkt hätte. Anders aber als viele andere Wege, die beschritten worden sind und gegangen werden mussten, hätte dieser Weg nichts gekostet. Er hätte auch keinerlei Verluste gezeitigt. Er trug aber die Chance in sich, mit vergleichsweise geringem Aufwand eine gesamtgesellschaftliche Klammer zur Verfügung zu stellen, die unter aktiver Mitwirkung von allen integrationsfördernd gewesen wäre.
Obwohl gemeinhin die Auffassung vorherrscht, die DDR sei der Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des bis 29. September 1990 gültigen Grundgesetzes "beigetreten", ist das formaljuristisch nicht korrekt. Denn zum Zeitpunkt des Beitritts am 3. Oktober 1990 gab es den Artikel 23 gar nicht mehr. Tatsächlich trat auch nicht die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei, sondern die fünf neuen Länder und de facto Ost-Berlin (Art. 1 und 3 Einigungsvertrag). Kurioserweise haben diese Länder aber noch gar nicht existiert. Laut DDR-Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990 war deren Konstituierung erst zum 14. Oktober 1990 geplant, an dem Tag, an dem ursprünglich die deutsche Einheit vollzogen werden sollte. Die Einheit Deutschlands kam also juristisch nicht durch den Beitritt, sondern durch den völkerrechtlich wirksamen Einigungsvertrag und den dafür notwendigen "Zwei-plus-Vier-Vertrag" der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit der DDR und der Bundesrepublik zustande. Juristische Fragen können anstrengend, juristische Antworten ziemlich irritierend sein.
Auch Europa braucht endlich eine Verfassung
Gegenwärtig erleben wir in Deutschland, in Europa und den USA, dass die repräsentative Demokratie erheblich unter Druck gerät. Demokratinnen und Demokraten sind allerorten verunsichert. Dazu tragen nicht nur Wahlerfolge von Populisten, Extremisten, Nationalisten, Rassisten und Faschisten bei. Hand in Hand geht diese Verunsicherung mit einer zuweilen kaum begreifbaren Hetze gegen Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, die Verfassungsorgane und ihre Repräsentanten in den (a)sozialen Medien. Kaum jemand hat eine Idee, wie dieser Seuche zu begegnen ist. Das freiheitlich-demokratische System wird Tag für Tag untergraben. Hetze und Hass haben längst viele politische Morde gezeitigt.
In Deutschland kommt hinzu, dass nur in unserem Land Demokraten und Demokratinnen mit den Symbolen des Nationalstaates herausgefordert und provoziert werden können. Es gibt kein anderes großes und einflussreiches Land auf der Welt, in dem mit sehr guten Gründen nur eine Strophe des der Nationalhymne zugrunde liegenden Gedichtes gesungen werden darf. Über den Sinn und Unsinn nationaler Symbole lässt sich in akademischen Seminaren und linken Zusammenhängen trefflich streiten. Zur gesellschaftlichen Realität gehören solche Symbole, ob einem das nun passt oder nicht. Für Demokraten und Demokratinnen sollte es daher selbstverständlich sein, die nationalen Symbole in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen. Ob Raubtiere wie Adler zeitgemäße Symbole darstellen - viele Nationen tragen Raubtiere in ihren Wappen - auch darüber ließe sich trefflich streiten. Auch über den Symbolgehalt von Fahnen lässt sich debattieren. Über eine Hymne aber, deren Strophen angesichts ihres aggressiven und chauvinistischen Charakters verboten sind, wohl nicht. Es muss eine neue her - und das schon lange!
Eine Hymnen-Diskussion sollte eingebunden werden in eine Verfassungsdebatte. Endlich muss Artikel 146 unseres Grundgesetzes mit Leben erfüllt werden. Ich bin mir sicher, eine sehr große Mehrheit, eine übergroße Verfassungsmehrheit (zwei Drittel) würde sich in der neuen Verfassung zu den alten Grundrechten und Staatsprinzipien ("Ewigkeitsklausel" im GG) bekennen. Wir würden den alten Gesellschaftsvertrag neu bekräftigen und zugleich beleben.. Und ganz nebenbei würden wir Europa Mut geben, den vor 15 Jahren abgebrochenen Weg für eine europäische Verfassung wiederaufzunehmen. Denn auch Europa braucht endlich eine Verfassung, um autoritären Entwicklungen Einhalt zu gebieten.


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